Antje Vollmer über Christoph Schlingensief

"Er wollte kein Provokationskünstler sein"

Derzeit erinnert die Dokumentation "Chance 2000" an ein Projekt des 2010 gestorbenen Künstlers Christoph Schlingensief. Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer war eng mit Schlingensief befreundet: "Er hatte ja den Ruf eines Dada-Künstlers, aber um den Christoph war immer ein heiliger Ernst". Christoph Schlingensief ist in den 1990er-Jahren durch viele provokanten Aktionen und Performances aufgefallen. So hat er 1997 bei der documenta X bei seiner Performance "Mein Filz, mein Fett, mein Hase" auf einem Pappschild gefordert "Tötet Helmut Kohl!". Was dazu führte, dass ihn die Polizei verhaftete. Doch er habe nie Provokation um der Provokation betrieben, erinnert sich die frühere Bundestagsvizepräsidentin, Grünen-Politikerin Antje Vollmer: "Er hatte ja den Ruf eines Dada-Künstlers oder eines Riesen-Provokateurs, aber um den Christoph war immer ein heiliger Ernst, er wollte das wirklich, er wollte es auf eine andere Form, aber er wollte überhaupt kein Spaßkünstler sein." Die Aktionen "Tötet Helmut Kohl!" und "Tötet Jürgen Möllemann!" hatten für Schlingensief ein juristisches Nachspiel. Deshalb musste Vollmer auch Schlingensiefs Eltern beruhigen, erinnert sich die Grünen-Politikerin: "Ich war für die Eltern eine Autoritätsperson. Die waren oft sehr verwirrt, das war eine sehr mittelständische Apothekerfamilie, katholisches Umfeld. Christoph war auch sehr katholisch, er war der einzige Sohn, von daher gerieten die auch in ihrer Umgebung und bei ihren Bekannten natürlich oft in ganz große Schwierigkeiten, ihren Sohn zu erklären, den sie aber heiß und innig liebten. Und da war das schon eine Stütze, wenn die Bundestagsvizepräsidentin anruft und sagt: Das geht schon in Ordnung, das ist wirklich Kunst und das ist auch bedeutend." Künstler mit Vorahnungen Vollmer hält Schlingensief für einen visionären Künstler, der bestimmte Entwicklungen vorausahnte: "Ich habe sehr schnell begriffen, dass Christoph eine kommende, gefährliche Entwicklung ganz früh ahnt und indem er sie zum Thema macht, und das so provoziert, dass er ganz heftige Gegenreaktionen bekommt, er die Aggressionen auf sich selbst, auf seine Person zieht, die Pfeile auf sich selbst zieht, aber dadurch das Gift aus dem Thema nimmt, oder das Thema debattierbar macht. Also diese Art von Vorahnung, das zeichnete ihn aus." Als Beispiel nennt Vollmer die Entwicklung von Talkshows, "bei denen nichts wirklich geklärt wird, alles ist nur eine Inszenierung". Das habe Schlingensief früher als andere erkannt: "Er hat dann die allerschrägsten Talkshows gemacht, wo die Leute rausgelaufen sind, wo sie in Tränen ausgebrochen sind, d.h., er hat das Verlogene, das gar nicht echte Interesse am Thema, dass es nur darum geht, bestimmte Bilder rüberzubringen, das hat er früher als alle anderen begriffen." Auch sein Projekt "Chance 2000" im Bundeswahlkampf 1998 sei eine Art Vorahnung gewesen, denn er habe "ganz früh einen Protest gegen das Großkoalitionäre, gegen den Mainstream gespürt und dem eine Chance geben wollen." Satireparteien wie "Die Partei" seien nicht vergleichbar mit Schlingensiefs "Chance 2000"-Projekt, betont Vollmer: "Christoph Schlingensief war darin noch ein ganz naiver Idealist, der hat wirklich noch gedacht: eine solche Kunst, die das Verborgene wachruft und es verhandelbar macht, die kann das Leben verändern, die kann die Leute verändern, die kann den Mutlosen Mut geben." Beitrag im Deutschlandradio Kultur vom 7.9.2017 zum Beitrag > Zurück
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