Prager Frühling 1968 – Athener Frühling 2015
Frau Vollmer, die Einschätzungen über das geplante dritte Hilfspaket für
Griechenland gehen maximal auseinander. Das bürgerliche Lager sagt: Die
Griechen können sich noch glücklich schätzen. Die politische Linke
spricht von Unterwerfung. Was meinen Sie?
Ich sehe viele Leute in Schockstarre. Wir wurden genötigt, Voyeure eines
Exzesses der Schwarzen Pädagogik zu sein, in den niemand eingreifen
konnte. Die einen versuchen, zu begreifen, was da mit einer frei gewählten
Regierung an Exempel statuiert wurde. Die Akteure und die willfährigen
Medien gehen zur Tagesordnung über - wohl wissend, dass das ein
hässlicher Akt war. Die Börsenkurse steigen.
Sie gehören also zu denen, die das Ganze für einen Akt der politischen
Unterwerfung halten.
Das Ganze erinnert mich an ein historisches Ereignis vom Anfang meiner
politischen Biografie: an den Prager Frühling 1968. Auch damals gab es
den Versuch eines kleinen Landes, in einem vorgegebenen System einen
eigenen Weg zu finden. Das hieß damals „Sozialismus mit menschlichem
Antlitz“. Damals wurde der Generalsekretär der tschechischen
Kommunisten, Alexander Dubcek, mit viel Druck gezwungen, das Diktat
der „Warschauer Fünf“ (SU,Polen,Ungarn,Bulgarien,DDR) zu akzeptieren
oder unterzugehen. Das habe ich mitgehört, als Tsipras gesagt hat: „Ich
werde nicht den Tod Griechenlands unterschreiben.“ Daraufhin hat er sich
bei einem Referendum den Rückhalt geholt, der von Angela Merkel als
„Vertrauensverlust“ denunziert wird. Und nun muss ein frei gewähltes
Parlament ein Gesetzespaket, an dem Parlamente sonst drei bis fünf Jahre
arbeiten, in zwei Tagen durchwinken. Griechenland wird zum Protektorat
der Eurozone. Das alles erlebe ich mit einem Gefühl trostloser Ohnmacht.
Wenn Sie die Parallele zum Prager Frühling ziehen, dann sagt Ihnen das
bürgerliche Lager aber mindestens, dass Dubcek den neuen Weg nicht mit
dem Geld anderer Leute gehen wollte.
Das Argument ist ein Selbstbetrug. Wolfgang Schäuble weiß genau, dass
er seinen ausgeglichenen Haushalt dem aus der Eurokrise resultierenden
Zinsvorteil und dem ungleichen Exportvorsprung der Deutschen vor den
schwächeren Ländern verdankt. Überhaupt ist er mit seinem Grexit-
Vorschlag - selbst wenn es Taktik und Inszenierung war - zu weit
gegangen. Ich weiß, dass Schäubles Leben von persönlicher Härte und
politischen Demütigungen geprägt ist. Aber seine Chance, ein großer
Europäer zu sein, hat er eigenhändig selbst zerstört.
Ist der Ausgang der Auseinandersetzung nicht einfach auch Ausdruck
mangelnder Geduld angesichts eines jahrelangen Hin und Her?
Alle vergangenen Hilfsprogramme und Tricksereien sind von der
unersetzlichen Troika und u.a. von Goldman Sachs gestaltet und
abgewickelt worden. Aber die Konsequenzen werden einer Regierung
aufgeladen, die ja überhaupt nur an die Macht gekommen ist wegen des
Versprechens, aus diesem System auszusteigen. Das war der Grund,
warum so viele junge Griechen und so viele alte und vom Troika- und
Oligarchen-System ermüdete Griechen diese Regierung gewählt haben.
Die Eurozone hat hingegen gezeigt, dass demokratische Wahlen sinnlos
geworden sind. Die Veränderung des Systems soll nicht einmal mehr
gedacht werden können, weil bereits das als Majestätsbeleidigung gilt. Da
ist viel Selbstgerechtigkeit im Spiel: auch die Deutschen haben in der
Vergangenheit „Regeln gebrochen“ (z.B. die Maastricht-Kriterien), auch
unsere Reeder flaggen aus, um in Steueroasen zu verschwinden, auch
unsere Konzerne und Reichen rühmten sich damit, keine Steuern zu zahlen
oder verbargen jahrzehntelang Gelder auf Schweizer Banken – bis die
whistleblower sie fanden.
Glauben Sie denn, dass das dritte Hilfspaket wenigstens ökonomisch
funktioniert?
Daran habe ich größte Zweifel. Angela Merkel hat sich Zeit erkauft, weil sie
nicht als das gelten will, was sie faktisch ist: eine Zerstörerin der alten Idee
Europas. Diese alte Idee beruhte auf Friedens- und Entspannungspolitik
und sozialem Ausgleich. Jetzt haben wir faktisch ein gespaltenes Europa:
in Nord und Süd, in Gewinner und Verlierer. Die Letzteren werden
irgendwann Europa die Gefolgschaft verweigern. Das ist das
allerschlimmste Ergebnis dieser Politik. Griechenland muss einen brutalen
Preis bezahlen, ohne dass es auf die Beine kommen kann. Andere sollen
abgeschreckt werden, keiner darf aus der Reihe tanzen.
Die anderen Mitglieder der Eurogruppe sagen nun mit Blick auf das
griechische Referendum: Wir sind auch demokratisch legitimiert. Ist das
so falsch?
Ich kann mir aber kaum einen Politiker aus dem geschlossenen Club der
Eurozone vorstellen, der bei einem solchen Referendum in solch einer
Krise so ein Ergebnis geholt hätte. Bei der sinkenden Wahlbeteiligung
werden die meisten etablierten Parteien ja real nur von Minderheiten
gewählt. Ich kann mir auch keinen anderen europäischen Politiker
vorstellen, der ein halbes Jahr nach einer gewonnenen Wahl solch ein
Risiko wagt und trotzdem so eine Unterstützung bekommt.
Ein besonderes deutsches Unglück besteht im Übrigen darin, dass sich
die SPD in Vasallentreue an die große Koalition gekettet hat. Nur mit den
Linken und schwankenden Grünen sind wir faktisch ein Land ohne
konzeptionelle Opposition. Dazu kommt die monokulturelle
Gleichförmigkeit fast aller öffentlich-rechtlichen Medien, der talk-shows
und der meisten politischen Kommentatoren. Die aktuelle Situation ist
jedenfalls hoch gefährlich. Für Griechenland hoffe ich, dass kein extremes
Chaos entsteht, in dem ich auch ein militärisches Eingreifen nicht mehr für
ausgeschlossen hielte.
Dann wäre die Parallele zum Prager Frühling tatsächlich perfekt.
Und zum Militärputsch in Griechenland 1967! Wenn man nicht eine ganze
junge Generation für Europa verlieren will, muss es eine Emanzipation
vom Merkel/Schäuble-Kurs geben. Ein Europa in den Händen der Troika
braucht niemand. Deshalb hoffe ich, dass sich die SPD von diesem Kurs
löst. Zudem ist absolut dringend, dass die deutsche die griechische
Bevölkerung unterstützt angesichts der humanitären Katastrophe, die sie
vor sich hat. Die Freunde Griechenlands sind zu rar und zu stumm
geworden in den letzten Tagen.
Das Gespräch führte
Markus Decker
Abgedruckt in Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau/ Kölner
Stadtanzeiger am 15.7.2015
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