Die Blütenträume und die Euphorie der großen Zeitenwende von 1989/90
sind verflogen. Kein Wort mehr von einer neuen Friedensära, von einer
multilateralen Weltordnung bei Stärkung der UNO, von dem Epochenziel
einer gemeinsamen Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis
Wladiwostok oder gar von der weltweiten Akzeptanz und Durchsetzung
westlicher Werte und Gesellschaftsmodelle.
Wie ist es dazu gekommen? Worin liegen die Ursachen dieses Verlustes? In
äußeren Faktoren oder im eigenen Unvermögen der Akteure?
Immer deutlicher wird: Es waren nicht die unvermeidlichen Mühen der
politischen Ebenen, es war nicht allein der 11. September 2001 mit seinen
Folgekatastrophen, nicht die Finanzkrise von 2008 und auch nicht die Wahl
Donald Trumps, die diese Träume zerstört haben. Es war eine grundsätzliche
Unfähigkeit der westlichen Demokratien Europas, einen guten Plan für die
Zeit nach dem unerwartet glücklichen Ende des Kalten Krieges zu entwickeln.
Es gab zwar Pläne , aber die waren weitgehend nicht in Europa, sondern in
Amerika ersonnen, in den neoliberalen und neokonservativen Think Tanks
und transatlantischen Beraterkreisen. Sie nutzten die Gunst der Stunde, um
die Siegerposition aus dem Ost-West-Systemkonflikt konsequent
auszuschöpfen. America First war zwar erst viel später die Leitparole von
Donald Trump, aber der Sache nach war es der Leitstern, dem alle US-
Regierungen stets folgten.
Das sowjetische Vielvölkerreich war in instabile Nationalstaaten zerfallen,
Russland durch die neoliberalen Wirtschaftsexperimente der Jelzin-Ära
ökonomisch und sozial geschwächt. Es wurde zur Regionalmacht
herabgestuft. Die Führungen aller postkommunistischen Staaten strebten in
die NATO und die EU und sehnten sich nach der Übernahme des westlichen
Lebensstils. Das aufsteigende China wurde bald als neuer Gegner und
geopolitischer Konkurrent ausgemacht. Der Kampf um die Ressourcen des
Nahem Ostens mit dem Erzfeind Iran eskalierte zu offenen Kriegen oder
Bürgerkriegen ( Irak, Afghanistan, Syrien, Libanon, Jemen )
Es dauerte eine ganze Weile, bis immer mehr Menschen in diesen Staaten
der Glaube daran verloren ging, sie seien nach 1989 in einer glücklicheren
Welt der Freiheit aufgewacht. Es dauerte, bis Zweifel daran aufkamen, ob
Globalisierung und Digitalisierung wirklich nur ein Segen für die Menschheit
seien, ob Privatisierung und Deregulierung des Wirtschaftslebens und
unbegrenzte Allmacht des internationalen Finanzkapitals wirklich die
Garanten des Wohlstands für alle wären.
Es war eine echte, aber andere Revolution, die stattgefunden hatte. Sie
wurde nur nicht so genannt. Es war ein propagandistisch begleitetes
Meisterstück politischer Strategie, das daherkam im Gewand eines Befreiers,
der vorgab, die tiefsten Sehnsüchte der Menschen hinter dem Eisernen
Vorhang zu erfüllen.
Und tatsächlich gab und gibt es solche Sehnsüchte bei den jungen Eliten in
Ost und West, besonders in den sozialen Medien, die die entfesselten
Freiheiten mit allen Sinnen auskosten und dabei individuelle Karrieren und
eine Kreativität nie gekannten Ausmaßes entwickeln. Nicht wenige von
diesen kamen aus den abgelösten Oligarchien des Sowjetsystems, andere
aus dem Kreis der Dissidenten.
Es scheint aber inzwischen, dass auch diese Revolution das Schicksal aller
großen Revolutionen teilt: Nach dem Rausch kommt die Ernüchterung. Und
der bohrende Zweifel, ob das große Freiheitsversprechen wirklich eingelöst
wurde.
Alle rechtspopulistischen Strömungen in Ost und West haben in dieser
Ernüchterung und in der daraus folgenden Wut ihre Ursache. Darum sind sie
so gefährlich. Darum muss man begreifen, was eigentlich falsch gelaufen ist.
Denn der Kern dieses Zweifels zielt auf das westliche Gesellschaftsmodell
selbst.
Demokratien können sich nicht durch Gewalt und Unterdrückung behaupten
wie Diktaturen. Sie werden auf Dauer auch nicht durch moralische
Ansprachen und Propaganda begründet und verteidigt. Der Kern ihrer
Daseinsberechtigung liegt darin, dass sie glaubhaft und dauerhaft den
Menschen einen Rahmen von gerechtem Chancenausgleich, eine stabile
Rechtsordnung, persönliche Freiheit, Friedenssicherung nach innen und
außen, eine verlässliche soziale Daseinsvorsorge und gute
Zukunftsaussichten für die nächste Generation garantieren.
Ob die westlichen Demokratien dies alles noch für die Mehrheit ihrer
Bevölkerungen leisten, ob sie wirklich als Modell für alle Gesellschaften der
Erde taugen, das ist der Kern ihrer heutigen Infragestellung und Krise.
Konkrete Beispiele: Nach Jahrzehnten und trotz gigantischem Militär- und
Propagandaeinsatzes ist kein Frieden in Afghanistan eingekehrt. Der Nahe
Osten versinkt in Bürger- und Stellvertreterkriegen. Millionen von weniger
Privilegierten leiden an völliger Erschöpfung wegen der Unsicherheit ihrer
Lebensperspektiven. Mangelnde Qualifikationen für die Erfordernisse der
digitalen Welt verstärken ihre Existenzunsicherheit. Die Finanzkrise von 2008
hat ganze Volkswirtschaften ruiniert und den obszönen Reichtum weniger ins
Unfassbare gesteigert. Die deregulierten Börsen haben sich umfassend von
der Realwirtschaft und jeglicher politischen Kontrolle abgekoppelt. Die
Klimakrise wird zur vorherrschenden Gattungsfrage. Die europäische Union
ist durch den brutalen Umgang mit Griechenland, den immerwährenden Streit
mit Ungarn und Polen, durch den Brexit, die ungeregelte Migration, die
ständigen Rüstungsanforderungen und den Sanktionsdruck aus Washington
geschwächt.
Vor diesem Hintergrund stößt die Corona-Pandemie bereits auf eine labile
Vertrauensbasis. Der Gipfel dieser Zweifel aber wird durch die Tatsache
gestützt, dass das sogenannte Mutterland der Demokratie , die USA, nicht
nur einen Donald Trump legal gewählt und 4 Jahre lang ertragen hat, sondern
diesen immer noch mit einer Zustimmung von 74 Millionen stützt.
Es ist eine Illusion, zu glauben, dieser Schaden sei mit der Wahl Joe Bidens
dauerhaft behoben und Amerika werde - mit Unterstützung der EU und
diverser transatlantischer Fan-Clubs - zu alter Weltbedeutung und
Vorbildfunktion zurückkehren. Das ist ein Trugbild. Es wird nicht so kommen.
Alles hängt in diesem kritischen Moment davon ab, ob die politischen,
intellektuellen und medialen Eliten der westlichen Demokratien noch zu einer
umfassenden Selbstkritik in der Lage sind. Und zu den notwendigen Folgen
daraus.
Sie müssen endlich erkennen, dass ihr Glücksversprechen stark den eigenen
Interessen, den eigenen Freiheits- und Machtbedürfnissen verpflichtet war
und dem von Ihresgleichen in den zu beglückenden neuen Demokratien. Der
Applaus aus den eigenen Reihen reicht aber nicht mehr. Ganze
Bevölkerungsschichten und deren Bedürfnisse und Ängste wurden außer
Acht gelassen. War es früher noch eine akzeptierte Richtschnur, dass
Demokratien darauf zu achten hätten, dass mindestens zwei Drittel der
Bevölkerung an der positiven Entwicklung des Gemeinwesens und des
kulturellen Gesellschaftsvertrags partizipieren sollten, ist dies längst obsolet
geworden. An die Stelle echter Kenntnis der Volksmeinung sind mediale
Kampagnen der political correctness getreten. Manches Elitenprojekt – von
der Sternchen/Gender –Sprachverhunzung bis zu den extremsten Zügen der
lifestyle-Libertinage - trägt skurrile Züge. Das mag liebenswert erscheinen,
entbehrt aber trotzdem jeder demokratischen Absegnung und kann
Menschen anderen Lebensstils tief verunsichern.
Viele Führungskräfte in Politik und Medien leben in einer eigenen Blase, mit
eigenen Wertmaßstäben. So werden die innereuropäischen Konflikte, ob mit
Griechenland und Italien, ob mit Ungarn und Polen oder gar mit Russland in
der Regel vom hohen Ross eines moralischen Imperialismus ausgefochten.
Insbesondere die glücklichen Deutschen und Teile des europäischen
Parlaments neigen seit 1990 zu dieser unangenehmen Form des Nicht-
Dialogs. Sie sollten allmählich erkennen, dass diese Methode der
Auseinandersetzung zwischen unabhängigen Staaten in der realen
Außenpolitik regelmäßig scheitert. Völlig entbehrt dieser hochfahrende
Gestus jeglichen Verständnisses für die echten Schwierigkeiten, eine
schwachentwickelte Volkswirtschaft von heute auf morgen der Konkurrenz
einer hochentwickelten auszusetzen (Griechenland) , oder für die Mühen
ganz Ost- und Mitteleuropas, eine tief verunsicherte Gesellschaft mit
rechtstaatlichen Institutionen und Verhaltensweisen auszustatten. (Die
Deutschen haben nach 12 Jahren NS-Diktatur mehr als drei Jahrzehnte dafür
gebraucht). Besonders ärgerlich ist die fehlende Empathie gegenüber den
gigantischen Problemen Russlands – immer noch ein Riesenreich, das in
einer neuen Weltordnung einen angemessenen Platz sucht. Die Geschichte
bietet wenige Vorbilder für gelungene Transformationen dieser Art.
Wenigstens die Tatsache, dass Russland entscheidend war beim
Zustandekommen der deutschen Wiedervereinigung und für den
Gewaltverzicht in den Umbruchprozessen, hätte einen anderen Verlauf des
deutsch-russischen Verhältnisses verdient gehabt.
Heute muss der Westen erleben, dass ein autoritär geführtes Land wie die
VR China in den Augen von immer mehr Staaten die großen Welt- und
Daseinsprobleme offenbar wirksamer zu bewältigen versteht als die eigene
Führungsmacht. Ob es die Pandemie-Bekämpfung ist, die Tatsache dass 800
Millionen Menschen der absoluten Armut entrissen wurden, das
Entwicklungsmodell der Neuen Seidenstraße, dieAnstrengungen im
Klimaschutz und bei der Ausbildung einer CO2neutralen Wirtschaft und
Infrastruktur, der Erwerb eigener unabhängiger Kompetenzen im
Internetbereich, die Fähigkeit, eigene Bündnisse und Freihandelszonen zu
schmieden - und zwar ohne ständige moralische Bevormundung – das alles
ist Grund genug, ins Grübeln über das westliche Fortschrittsversprechen zu
kommen. Zwar ist das alles ohne unser Demokratieverständnis gekommen,
auf das wir nicht verzichten wollen und werden. Der Verweis auf Tibet, die
Uiguren und die Hongkong-Dissidenten ist nicht unberechtigt, reicht aber
nicht hin, den Aufstiegs Chinas zu erklären oder gar zu verhindern.
Wenn die westlichen Demokratien nicht dauerhaft verlieren wollen, müssen
sie endlich ihre Lage begreifen und über Fehlentwicklungen der letzten 30
Jahre diskutieren. Sie müssen sich von der geliebten Annahme der
selbstverständlichen, unbestreitbaren Überlegenheit ihres Systems in Form
und Inhalt verabschieden. Sie müssen ganz neu anfangen, ihre eigenen
Feindbilder und Hysterien zu bekämpfen, die längst einen neuen Kalten Krieg
vorbereiten. Sie müssen wieder lernen, diplomatische Kompromisse zu
schließen: mit China, mit Russland, mit dem Iran, mit Griechenland, Polen
und Ungarn. Sie müssen alles auf die Karte der UNO setzen. Sie müssen
endlich den internationalen Konzernen, Banken und hedge-fonds, google
und amazon, Steuern und Regeln verordnen, sie dürfen vor US-Sanktionen
nicht länger kuschen. Sie müssen die Rüstungsausgaben begrenzen und
umgehend mit einer weltweiten Entspannungspolitik ernst machen. Sie
müssen sich neu als Demokratie erfinden.
Das sind Herkulesaufgaben mit ungewissem Ausgang. Aber wenn
Demokratien das nicht können, wer sonst?
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© 2013 Dr. Antje Vollmer
Die Hybris des Westens
( Ein Weckruf)