3. Exkurs: Amerikanische und europäische Ansichten Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, Ihnen einen Beitrag zur Lösung von Minderheitenkonflikten vorzustellen. Ich denke, dieser Weg ist ein spezifisch europäischer Vorschlag. Warum das so ist, kann ich vielleicht am besten anhand eines Beispiels über die unterschiedlichen Lösungsansätze der Europäer und der US-Amerikaner deutlich machen. Es geht um die sehr unterschiedliche Akzeptanz des Internationalen Strafgerichtshofs der im Sommer des Jahres 2002 endlich formal errichtet wurde, jetzt im März diesen Jahres seine Richter ernannt hat und nun die Arbeit aufnehmen kann, sobald der Ankläger auch gewählt ist. Während die meisten Europäer und insgesamt 89 Staaten die Vereinbarung zum Internationalen Strafgerichtshof unterzeichnet und ratifiziert haben, was für eine sehr breite Akzeptanz spricht, zögern die USA die Ratifizierung noch hinaus. Was für uns eine Verrechtlichung und damit die weitestgehende Objektivierung der zwischenstaatlichen Beziehungen und also ein großer Fortschritt ist, wird von den USA als äußerst bedrohlich empfunden. Schauen wir uns die amerikanische Argumentation in der Frage des Internationalen Strafgerichtshof noch etwas genauer an. Ruth Wedgewood, die Professorin für Internationales Recht von Yale, hat die Punkte sehr anschaulich zusammengefasst. Wir werden daraus möglicherweise Erkenntnisse über das unterschiedliche Denken der Amerikaner und der Europäer ziehen können: Der Internationale Strafgerichtshof behandelt Verbrechen, die im Laufe von Kriegshandlungen verübt werden. Erstens, so geben die Amerikaner zu bedenken, entscheidet das Gericht zum Beispiel darüber, ob es sich bei einer Kriegshandlung um einen effektiven Kriegsschlag handelt oder um eine übermäßige Schädigung der Zivilbevölkerung. Die USA gehen davon aus, dass die Richter dies nicht beurteilen könnten, da sie weder spezielle militärische Ausbildungen genossen hätten, noch an dem Geschehen teilgenommen hätten. Den Richtern wird also die fachliche und die juristischen Kompetenz abgesprochen. Zweitens, den USA ist unbegreiflich, warum so viele Staaten - unter anderen auch Deutschland - bereitwillig peacekeeping-Einsätze mitmachen, aber die Notwendigkeit, in anderen Fällen ein peace enforcement vorzunehmen, nicht einsehen wollen. Hier taucht wieder die grundsätzliche Frage auf, ob es gerechte Kriege geben kann. Amerika bejaht diese Frage uneingeschränkt. Dazu gehört auch der dritte Einwand gegen den Internationalen Strafgerichtshof: Wenn Aggression vom Internationalen Strafgerichtshof als zu ahndendes Verbrechen behandelt wird, dann fallen auch "Befreiungsschläge" darunter, die die USA in bestimmten Fällen für legitim halten. Viertens ist es für Amerikaner unverständlich, warum der Internationale Strafgerichtshof komplementär zu den nationalen Gerichten einschreiten solle. Ein Amerikanisches Gericht würde niemals einen US- Soldaten verurteilen, der auf Befehl seines Landes gehandelt hat. Auch hier klingt ein grundsätzliches Mißtrauen in die Fähigkeit von Richtern, gerechte Urteile zu sprechen, an. Es scheint, als haben die Amerikaner die Gewaltenteilung als demokratisches Prinzip niemals vollständig akzeptiert. Die Entwaffnung der Bürger hat niemals stattgefunden. Selbstjustiz ist nicht als grundsätzliches Unrecht anerkannt worden - anders als in der berühmten Szene des Sokrates, wo er sein eigenes ungerechtes Todesurteil akzeptiert - damit das Recht als solches gewahrt bleibt. Im Sommer des Jahres 2002 konnten die USA unter Androhung, ein Veto gegen die Verlängerung des UN-Mandats in Bosnien-Herzegovina einzulegen, eine doppelte Schwächung des Internationalen Strafgerichtshofs erreichen, bevor der überhaupt seine Arbeit aufnehmen konnte: Durch die Resolution 1422, die der UN-Sicherheitsrat schließlich unter dieser Androhung verabschiedete, genießen Angehörige von Staaten, die nicht Vertragsstaaten des Statuts des IstGH sind und an UN-Missionen teilnehmen, für ein Jahr vor diesem Immunität. Nicht nur der Kreis der möglichen Angeklagten des Strafgerichtshof wird verkleinert, er wird auch insgesamt in seiner Unabhängigkeit geschwächt, indem er einer UN-Sicherheitsratsresolution untergeordnet wird. Dieses erneute Ausscheren der USA aus einer internationalen Vereinbarung macht einen wesentlichen Unterschied zwischen den USA und Europa deutlich: In den USA fehlt das umfassende Vertrauen in kodifiziertes Recht und seine Institutionen. Ein Grund dafür mag in der grundlegend anderen Rechtstradition des angelsächsischen Rechts liegen. Im Case Law, das die Basis auch des amerikanischen Rechtssystems bildet, dominiert der Richter, der sich stark an Präzedenzfällen orientiert. Bei all den Schwächen unseres Rechtssystems, gehen wir doch immer von einer möglichst großen Objektivität der Fallbearbeitung aus. Zumindest in der Theorie sind die Richter bei uns austauschbar, denn die Regeln der Gesetzesanwendung sind weitestgehend standardisiert und sollten bei Anwendung verschiedener Personen doch zum gleichen Ergebnis kommen. Ein weiterer Grund für die unterschiedlichen Vertrauensgrade in internationales Recht und seine Institutionen wird von einigen Autoren mit dem immensen militärischen Ungleichgewicht diesseits und jenseits des Atlantik begründet. Nach dem Ende des Kalten Krieges seien die Amerikaner als einziger hochgerüsteter Staat übriggeblieben. Natürlich läßt sich aus einer tatsächlichen militärischen Überlegenheit gegenüber praktisch allen anderen Staaten der Erde eine gewisse Streit- und Siegeszuversicht erklären, die den schlecht ausgerüsteten Europäern nicht erwachsen will. Die Stärke der Europäer liegt auf rechtsstaatlichem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet. Ich denke, die unterschiedlichen Herangehensweisen rühren daher, dass für Europa die lange Geschichte der europäischen Kriege und die Katastrophen der beiden Weltkriege zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Krieges geführt haben. Europa hat die Erfahrung gemacht, dass es möglich ist, durch Verträge und Regeln eine echte Gemeinschaft von ehemals bis auf das Mark verfeindeten Staaten zu schaffen. Die USA haben keine vergleichbaren Erfahrungen gemacht. Seit dem Bürgerkrieg kennen sie den Krieg nur aus der Entfernung, geführt in anderen Ländern. Aus ihrer Sicht hindern internationale und multilaterale Vereinbarungen die Supermacht daran, ihre eigenen "guten" Ziele zu verfolgen. Die Sprache von den europäischen "Wieseln", die zu feige seien, gemeinsam mit den USA in den Krieg gegen den Irak zu marschieren, entstammt einer ganz anderen mentalen Welt als die, in der sich Europa befindet. Europa hat, wie Herfried Münkler zu recht sagt, den Heroismus endlich hinter sich gelassen und damit auch diese Kraftsprache und Heldenrhetorik verlernt. Deshalb ist mein Vorschlag ein europäischer Vorschlag: 4. Der Internationale Gerichtshof für Minderheiten - ein europäischer Vorschlag Wie wir aus dem bisherigen erkennen konnten, sind es nicht die klassischen zwischenstaatlichen Konflikte, die den Weltfrieden jetzt und in der Zukunft bedrohen. Vielmehr sind es die innerstaatlichen Konflikte. Sie gefährden die Stabilität im eigenen Land. Sie ergießen Flüchtlingsströme in die benachbarten Länder und weiten die Konflikte zu transnationalen Dimensionen aus. Wir haben darüber hinaus gesehen, dass diese Kriege überaus zerstörerisch und langwierig und nur unter Aufbringung großer Kraftanstrengung der Weltgemeinschaft überhaupt wieder zu beenden sind. Die Frage ist: Gibt es einen Weg, diese ethnisch-religös begründeten Konflikte, die es unweigerlich weiterhin geben wird, anders als durch zähe Kriegsjahre zu klären und zu lösen? Kann dem Zerfall der Vielvölkerstaaten Einhalt geboten werden? Ist langfristige Stabilität vielleicht doch denkbar? Die Lösung, die ich Ihnen heute anbieten möchte, ist die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes für Minderheiten. Der Schutz von Minderheiten auf internationaler Ebene soll verrechtlicht werden. Wir haben überwiegend gute Erfahrungen mit den ersten internationalen Gerichtshöfen und Tribunalen gemacht. Angefangen mit dem Nürnberger Internationalen Strafgerichtshof, der trotz all seiner Anfangsschwierigkeiten doch ein Beispiel für den Willen der Völker ist, sich mit allen - auch den denkbar schlimmsten - Verbrechen auf rechtsstaatliche Weise auseinander zu setzen. Und wir haben dazu gelernt. Wir haben erkannt, dass die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs Kriegsverbrecher nicht davon abhält, weiterhin Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen, aber die Einrichtung der Tribunale - besonders für Ruanda und für das ehemalige Jugoslawien - hat doch erste respektable Instanzen geschaffen, die eine friedliche Beilegung der Konflikte in langfristiger Perspektive ermöglichten. Keine der vorhandenen internationalen Institutionen kann die Aufgabe bisher erfüllen. Es gibt keine Anlaufstelle für Minderheiten und es gibt kein Verfahren zur Ahndung von Verstößen gegen die Rechte von Minderheiten. Es gibt noch nicht einmal eine eindeutige Definition, was Minderheiten sind. Der Schutz durch die Vereinten Nationen ist trotz der vielen Konventionen und Unterorganisationen noch immer unzureichend. Vor allem ist er in vier Punkten nicht effektiv, die ich an dieser Stelle noch einmal nennen möchte: Erstens steht das Selbstbestimmungsrecht der Staaten im Wertesystem der UN weit höher als das Recht der Minderheiten auf Schutz. Der Nationalismus auf der einen und die Idee des Selbstbestimmungsrechts aller, auch der kleinsten "Völker" auf der anderen Seite haben in der Geschichte zu nie dagewesenen Menschenrechtsverletzungen geführt. Sie sind die Quelle von Populismus und Vertreibung. Wir müssen sie überwinden. Zweitens fehlt es den Vereinten Nationen an Mechanismen und Schutzregeln, die von Kollektiven wahrgenommen werden können. Der Einzelne kann sich bereits in vielfältiger Weise auf seine Menschenrechte berufen, eine Minderheit als solche kann das noch nicht. Drittens, die Schutzmechanismen für Minderheiten, die es im Regelwerk der Vereinten Nationen bereit gibt, haben den schwerwiegenden Mangel, dass es ihnen an Mechanismen zur Durchsetzung fehlt. Was nützt es, wenn der Verstoß gegen die Rechte einer Minderheit festgestellt wird, aber der jeweilige Staat, der diese Rechtsverletzung vornimmt, nicht sanktioniert werden kann? Und schließlich, viertens, gibt es keine allseits anerkannte und unzweideutige Definition. Erst wenn eine richtige Definition der "Minderheit" gefunden ist, ist eine rechtsstaatliche Ahndung von Vergehen gegen Minderheitenrechte wirklich möglich. Aus diesen vier Mängeln des bestehenden internationalen Minderheitenschutzes ergeben sich unmittelbar die wichtigsten Aufgaben eines Internationalen Gerichtshofes für Minderheiten: Ein solcher Gerichtshof soll die Legitimität von Schutzansprüchen nach rechtlichen, also objektiven Kriterien prüfen. Er soll beide Seiten anhören, die Minderheit und den angeklagten Staat. Durch die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes wird sich mit der Zeit eine bessere, noch zutreffendere Definition des Begriffes "Minderheit" ergeben, die allgemein anerkannt werden kann. Anhand dieses Begriffes und in der engen Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen ist eine tatsächliche Verbesserung des Minderheitenschutzes möglich. Dazu müssen die Richter des Internationalen Gerichtshofes für Minderheiten mit Befugnissen zu Sanktionen - von Auflagen für die rechtsbrechenden Staaten hin bis zur Intervention - ausgestattet werden, um der Rechtsprechung auch Durchsetzungskraft zu verleihen. Eine wichtige Voraussetzung möchte ich noch hinzufügen: Eine Minderheit, die ihr eigenes Recht schafft, in dem sie Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele anwendet, hat ihr Recht verwirkt, vor dem Internationalen Gerichtshof für Minderheiten zu klagen. Die Rechtsprechung setzt lange vor einer möglichen Gewalteskalation ein und soll diese so ersetzen bzw. verhindern. Die Einrichtung des Internationale Gerichtshofes für Minderheiten hätte vor allem fünf Wirkungen, die einen entscheidenden Beitrag zur friedlichen Lösung von Minderheitenkonflikten, der Kriegsursache Nummer Eins unserer Zeit leisten würden: 1. Minderheitenkonflikte würden aus der alten spannungsreichen Umgebung in eine neutrale verlagert werden und schon dadurch deeskalieren. 2. Minderheitenkonflikte würden als das akzeptiert und behandelt werden, was sie sind: zentrale Ursachen und Antriebsmomente der modernen Kriege. Sie würden nicht länger als Untergruppe zu einzelnen Menschenrechtsproblemen angesehen. 3. Die Schlichtung der Konflikte könnte Alternativen zu unendlichen und bisher nicht zielführenden Zerschneidung von Staaten herausarbeiten. Minderheitenfragen könnten von den Bestrebungen um Stabilität getrennt gesehen und behandelt werden. 4. Durch den Ausweg aus der Krise werden Minderheiten nicht länger Reserveeinheiten für terroristische Gruppen sein, denn ihre Probleme werden rechtsförmig und mit friedlichen Mitteln gelöst. 5. Der Gerichtshof kann durch die Ausbildung von sachlichen Kriterien für die Beurteilung von Minderheitenkonflikten ein Gegengewicht zu den selektiven Kampagnen der globalisierten Medien schaffen. Unter anderem könnte damit auch verhindert werden, dass Minderheitenprobleme als Vorwand und Legitimierung anderer Kriegsinteressen, geschürt durch die Medien, mißbraucht werden. 5. Gegenargumente und Einwände Dieser Vorschlag birgt noch einige offene Fragen, das ist selbstverständlich. 1. Die Definition von Minderheiten, über die sich die Völkerrechtler schon seit Jahrzehnten den Kopf zerbrechen, ist für die Arbeit des Gerichtshofs von entscheidender Bedeutung, denn sie kann über die Parteifähigkeit eines Klägers entscheiden. Die Klärung dieser Frage muß also vor dem ersten Fall geklärt werden, obwohl die Rechtssprechungserfahrung des Gerichtshofs selbst erst zu einer Klärung der Definition beitragen kann. 2. Besonders spannend ist darüber hinaus auch die Frage, wer der legitime Vertreter einer Minderheit vor dem Gerichtshof sein könnte. Ein demokratische gewählter Anführer ist meist nicht vorhanden. Ein beauftragter Anwalt wäre vielleicht denkbar. 3. Wie bei jeder anderen internationalen Organisation ist auch die Frage der Unterzeichnung und Ratifizierung der Mitgliedsländer kompliziert. Der Minderheitenschutz ist für die meisten Staaten eine heikle Frage, warum sollten sie sich einem Gericht unterwerfen, dass ihnen mit größter Wahrscheinlichkeit, Verletzung von Minderheitenrechten vorwerfen wird? Bei diesem Punkt bin ich der Ansicht, dass es allmählich leichter wird, die Staaten zu überzeugen. Denn obwohl der Gerichtshof die Durchsetzung von Minderheitenrechten voran bringen soll, wird er immer beide Seiten eines Konflikts anhören. Auch der angeklagte Staat wird seine Argumente darlegen können. Bisher hatten die Staaten keinerlei Mittel gegen die auch oft ungerechten Medienkampagnen der Minderheiten, ihrem Gesichtspunkt öffentlich Gehör zu verschaffen. 4. Offen bleibt die Frage, wie mit angeklagten Staaten umgegangen werden müßte, die sich der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht unterwerfen wollen. 5. Und schließlich ist auch sehr wichtig, vor der Errichtung des internationalen Gerichtshofs für Minderheiten Alternativen zur Sezession von Staaten als Lösung von Minderheitenkonflikten zu finden. Was können die Richter den Konfliktparteien vorschlagen oder empfehlen? Hier wird es wohl ein gestuftes System geben: Eine Klage vor dem Minderheitengerichtshof müßte als vorrangiges Ziel haben, die Rechtslage und die Rechtspraxis in Bezug auf Minderheiten in einem bestimmten Land zu verbessern. Das Gericht würde den angeklagten Staat zunächst zu einer Verbesserung in diesem Bereich anhalten. Die Deklaration von Autonomierechten müßte hinzukommen. Erst auf einer viel höheren Stufe, wenn diese Bemühungen zu keiner Verbesserung der Lage der Minderheit geführt haben, sollte das Gericht den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anrufen können, um von ihm die Entsendung von Schutztruppen oder ähnliche Maßnahmen anzufordern. Die Errichtung des Internationalen Minderheitengerichtshofes wäre ein wichtiger Beitrag zu mehr Frieden und Stabilität. 6. Zusammenfassung und Ausblick Die Konzeption des Gerichtshofs ist eine große und spannende Aufgabe. Vor allem ist aber für dieses Vorhaben auch noch viel Überzeugungssarbeit zu tun. Der Stiftung Convivenza, die das Europa- Institut hier in Zürich wissenschaftlich trägt, könnte da eine wichtige Vermittlerfunktion zukommen. Nicht nur die Erfahrungen mit dem
© 2013 Dr. Antje Vollmer